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Auf einem Tiroler Bergbauernhof in der Nachkriegszeit

Der Brutfuchs

Da es nicht ganz auszuschließen ist, dass meine Geschichten auch Nichtjäger lesen, muss ich vorher einige Dinge erklären.

Auf so einem Tiroler Bergbauernhof hatte in der Nachkriegszeit alles und jeder seinen Sinn und seine Aufgabe. Wer keinen offensichtlichen  Zweck erfüllte, hatte auch keine Daseinsberechtigung. Das erscheint in der heutigen Zeit sogar mir hart, aber die Zeiten waren einfach anders. Mein Großvater war noch ein richtiger Bauer. Er hatte noch Zeiten erlebt, wo sogar ein Bergbauer ein kleiner Gutsherr war, der Knechte und Mägde beschäftigt hatte.  Jäger war er eigentlich keiner, aber es scheint mir aus heutiger Sicht sehr schwer, hier eine  klare Grenze zu ziehen. Grund und Boden sowie die Ernte waren dem alten Mann heilig, nützliche Haustiere genossen fast mehr Schutz als Kinder, Schädlinge und Nichtsnutze wurden gnadenlos bekämpft.

So kam es, dass es für uns Kinder bereits Schelte gab, wenn eine Feldmaus nicht erschlagen wurde. Er selbst sammelte jedes Nest mit den nackten Jungmäusen und brachte sie den heranwachsenden Katzen in den Stall, damit diese wussten, wie ihre zukünftige Nahrung aussehen sollte. So lernte ich schon als kleiner Bub, dass die Natur Krallen hatte und ich gebe zu, dass mir diese armen, nackten und hilflosen Geschöpfe leid taten. Es hätte aber keiner von uns auch nur gewagt, etwas gegen das vorgehen zu sagen, und ich schon gar nicht, mich mochte er nicht sonderlich, weil ich in seinen Augen ein „Mammilar“ (ein Muttersöhnchen) war.

Ein Arm voll Heu war zu dieser Zeit noch etwas, eine gute Legehenne hatte damals mehr Wert, als heute so manches Kalb. Sie legte jeden Tag ein Ei und am Ende wurde sie geköpft und landete im Suppentopf. Ein Wegwerfen gab es zu dieser Zeit nicht, vielleicht hat mich diese Zeit zu sehr geprägt, ich kann mich mit dieser Wegwerfgesellschaft auch heute noch nicht identifizieren. Ende der Sechzigerjahre, nach einem schneereichen Winter, verschwand aus dem Hühnerstall jede Nacht ein Henne. Da mein Vater keine Anstalten machte, dem Treiben ein Ende zu setzen, erklärte mein Großvater, dass er nun die Sache in die Hand nehmen würde. Wer in Italien den ersten Weltkrieg überstanden hat, lässt sich schließlich nicht von einem Fuchs ruinieren.

Ich traue es mich heute noch fast nicht auszusprechen, aber mein Mitleid galt eher dem Fuchs, als den Hennen. Das mochte einerseits daran liegen, dass die Füchse zu dieser Zeit Junge hatten und andererseits lag es wohl daran, dass ich dieses Hühnervieh einfach nicht mochte. Alleine dieser beißende Gestank beim Ausmisten gab mir schon den Rest. Mein Großvater oder „Voter“ wie wir ihn nannten, war ein eher kleiner Mann mit großer Nase. Er trug immer eine recht weite Hose mit auffälligen Hosenträgern. Seine Spezialität war das Schnapsbrennen. Er war ein hervorragender Sänger und recht umgänglicher Mensch, mit sehr guten Manieren. Von Mai bis September trug er keine Schuhe, seine Füße, proportional für das Mandl, waren viel zu groß und sahen aus, wie dunkle Lederpatschen, Eindrücke, die ein Kind nie vergisst.

Der Obstgarten eines Bauernhofes, betrachtet durch ein kleines Fenster des Schlafzimmers in einer Vollmondnacht, bot das bessere Programm, als heute alles SAT Programme zusammen, vorausgesetzt die Scheiben waren  eisfrei. Das war Universum pur und live. Gerne erinnere ich mich, wie die Rehe und Hasen unter den riesigen alten Birnbäumen umherstreiften und nach Resten des wertvollen Obstes suchten. Längst hatte ich auch die Füchse beobachtet. Sie kamen aber nie zusammen. Immer nur einer schnürte zielbewusst zum Hühnerstall. Sie nahmen immer den gleichen Weg, zuerst durch eine Vertiefung unter dem Grenzzaun, einem alten Holzlattenzaun, danach dicht an einem Scheuerlbirnbaum vorbei, kurz gesichert und schnurstrax  (geradewegs) zu den Hennen. Danach hörte man ein kurzes Scharren, ein Flattern und dann war eine Dreckmacherin weniger. Der Retourweg von Reinecke führte ca 10 m  entlang der Hausmauer und weiter unter das Vordach der Brennhütte, geschützt durch den Schatten des Gebäudes. Damals und noch heute bewundere ich den Mut dieser ewig gejagten Jäger. Nun sollte dies wohl die letzte Nacht gewesen sein.

Mein Großvater hatte sich schon den alten Lodenmantel und das Flobert (Kleinkalibergewehr  22 Long Riffle) von der Garderobe genommen. Zielbewusst stapfte er wie der letzte Krieger durch den Schnee zur Brennhütte. Für die Erwärmung von innen dürfte dort wohl mehr als genug vorrätig gewesen sein. Glaubt nur nicht, dass ich in dieser Nacht ein Auge zugemacht habe. Ich hatte mir das Fernglas meines Vaters genommen und mit der Nase vor dem kalten Fenster gewartet. Immer wieder musste ich die Scheibe abwischen, da mein Atem sie zum Beschlagen brachte. Meine Gedanken kreisten um die armen, kleinen wunderschönen Jungfüchse, welche vermutlich nach dem nahen Tod der Mutter erbärmlich sterben müssten. Auch sah ich schon das Bild vor mir, wie Großvater in  der Türe Stehen wird und mit hoch gestrecktem Arm heroisch seine Beute, vermutlich die arme Fuchsmutter, präsentieren wird.

Doch diese Nacht war anders. Keiner der Füchse zeigte sich unter dem Lattenzaun. Doch plötzlich hörte ich dieses mir bekannte Scharren am Hühnerstall, danach ein Flattern und nur wenige Minuten später ein Schuss. Nun hielt mich nichts mehr. Im langen Gang des alten Bauernhauses wartete ich in der Unterhose auf das Eintreten von Voter, dem Fuchsmörder. Es dauerte nicht lange, dann hörte ich seine Schritte. Er kam näher und riss die Türe auf. Dort stand er nun, nur nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Seine Haltung war nicht die eines Siegers. Die Hosenträger hingen ihm zu den Knien hinab, die Haare waren zerzaust, die Augen gerötet, ob dies vom Schnaps oder von der Kälte war, weiß ich nicht, in seiner ausgestreckten Hand hielt er eine tote Henne. „Iats ischt er darhin der Krippl!“ rief er in den Gang. Ein paar Sekunden konnte ich mich noch beherrschen, dann brach ich in lautes Lachen aus und zugleich fing ich eine der wenigen Watschen von meinem Großvater. Aber was war das schon, verglichen damit, hätte er wirklich die Fuchsmutter erwischt.  Als ich mich umdrehte, konnte ich noch erhaschen, dass er sich selbst ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Danach sah ich meinen Großvater nie mehr mit einem Gewehr.